Auf dem Weg zu dir

Meine Stirn lehnte gegen die kalte Scheibe der Bahn, während draußen, durch den kalten Wind angetrieben, dicke Schneeflocken vorbeizogen, als hätte die Welt dort draußen schlechten Empfang und könnte deshalb nur weißes Rauschen, unterbrochen von kurzen Bildfetzen, wiedergeben. Nervös trommelten meine Finger auf mein Knie, stoppten nur für einen Moment, als ich mich auf sie konzentrierte und fingen direkt wieder damit an, als meine Gedanken in einer Welle statischen Rauschens verschwanden. Den gesamten Tag über hatte ich mich bereits danach gesehnt endlich bei dir zu sein und deine verführerische Wärme zu spüren, die mich vor der kalten Welt dort draußen retten würde. Der Gedanke an deine zärtliche Berührung hinterließ ein angenehm wohliges Gefühl in mir, meine Muskeln wurden für einen Moment weich und ich ließ mich in den harten Sitz zurückfallen.

Aber was, wenn du heute gar nicht da sein würdest? Was, wenn du nicht für mich da sein könntest? Genau heute, wo ich dich mehr brauche, als bisher?

Ein elektrischer Impuls jagte durch meine Muskeln und sofort verkrampften sie sich. Ohne einen Einfluss darauf zu haben begannen meine Füße so stark zu zittern, dass sie einen trommelnden Ton auf dem schmutzigen Plastikboden der Bahn erzeugten. Schweiß tränkte mein Shirt und mein Herz begann zu rasen.

Natürlich wirst du heute da sein. Wieso denn auch nicht? Das letzte Mal, als ich dich nicht haben konnte, ist schon eine Ewigkeit her und das auch nur, weil dieser elende Marc alles versaut hat. Aber der hat sich an dir die Finger verbrannt, nicht so wie ich. Ich passe auf uns beide gut auf, so wie du auf mich aufpasst.

Ich sprang auf, knickte beinahe um, konnte mich gerade noch an einem der Griffe festhalten und schwankte auf schwachen Knien zu dem nächsten Ausgang. Der kalte Wind schlug mir wie eine Faust ins Gesicht, als ich auf den Bahnsteig trat und der dicke Schnee sammelte sich direkt auf meinem schwarzen Mantel, bis dieser genauso in ein Störbild verwandelt war, wie alles um mich herum. Nachdem ich mir eine miserabel gedrehte Zigarette in den Mund gesteckt und gierig angezündet hatte, begann ich das letzte Stück meines Weges.

Wenn ich könnte, würde ich dich sowieso nie verlassen und immer in deiner warmen Umarmung bleiben. Außer dir brauche ich doch sonst nichts! Du gibst mir Wärme, Nähe, das Gefühl jemand zu sein und den nächsten Tag zu überstehen, egal was kommt, denn ich weiß, du wartest auf mich und bist für mich da, wenn ich zurück komme.

Mein Weg führte vorbei an verschneiten Spielplätzen, die zu dieser späten Zeit sowieso nur noch als Treffpunkte für zwielichtige Gestalten und Jugendliche dienten, die an keinem anderen Platz willkommen waren. Von dort aus ging es weiter durch eine Ladenstraße, in der leuchtende Reklametafeln für das nächste Stück Müll in den Weltmeeren warben, während sich unter den Schaufenstern einige Obdachlose zusammenrollten, um sich gegenseitig wenigstens ein wenig Wärme zu spenden.

Alle haben sie gesagt ich würde enden wie die da, wenn ich nicht mit dir Schluss mache. Haben gesagt, du würdest mich nur in den Abgrund treiben und mir mein restliches Leben versauen. Aber seht her wer da im Dreck liegt und friert. Ich, oder sie?

In der nächsten Seitenstraße angekommen trat ich durch einen verwitterten Gartenzaun und auf die dunkle Holztür zu, die zu dir führte. Mein Herz schlug einen Moment schneller und leise klopfte ich gegen das Holz. Einen Moment später öffnete mir eine junge Frau mit leuchtend roten Haaren und tiefen Augenringen, lediglich in ein bauchfreies Top und einen sehr dezenten Slip bekleidet und ließ mich wortlos vorbei, bevor sie sich wieder auf eine durchgesessene Couch und in die Arme eines jungen Mannes fallen ließ, der sofort damit begann sie weiter zu entkleiden. Die Hintergrundmelodie lieferte ein alter Plattenspieler, der sich aufgehangen hatte.

Gleich bin ich endlich bei dir und meine Welt wird wieder bunt und warm.

Eine morsche Treppe führte mich in den ersten Stock. Oben angekommen wartete ein weiterer junger Mann auf mich. Ich schlug zum Gruß meine Faust gegen seine und steckte ihm einen Umschlag zu. Ohne ein Wort zu sagen drehte ich mich um, wanderte wie auf Wolken in das hinterste Zimmer und warf meinen Mantel, sowie meinen Pullover über einen Stuhl. Dann ließ ich mich auf einen weichen Sessel fallen und zog einen kleinen Beistelltisch näher zu mir.

Nachdem sich das Blut gestaut hatte drückte ich mir langsam die Nadel der Spritze, welche auf dem Tisch gelegen hatte, in den Arm, injizierte den gesamten Inhalt und versank in der weichen Lehne.

Endlich sind wir wieder zusammen…


Verfasst am 11.04.2022

Geboren bin ich 1999 in Oberbayern und habe mit elf Jahren angefangen Gedichte zu verfassen. Meine erste Kurzgeschichte "Rot" entstand im Oktober 2021 und wurde online bei mosaik veröffentlicht. Seitdem habe ich mehrere weitere Kurzgeschichten verfasst. Zwischendurch bin ich kläglich an einem Informatikstudium gescheitert und kümmere mich jetzt als Fachinformatiker um kaputte Drucker und vergessene Passwörter.
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